antirassistische initiative berlin


CALL FOR PAPERS: ZAG_72 /2016
Thema Biedermänner (Juni 2016)

Es brennt in Deutschland. Die AfD zieht in gleich drei Länderparlamente ein und hat ihre Listen bis zum letzten Platz ausgeschöpft. Viele Zeitgenossinnen und Zeitgenossen zeigen zurzeit auf das AfD/NPD-Pack und rufen: Da sind die Brandstifter! Haltet sie!

Das greift zu kurz.

Was wir gegenwärtig beobachten, ist kein Phänomen des rechten Randes, es geht nicht um einige Parteien wie die NPD, die AfD oder Gruppen wie HoGeSa, Pegida oder Ähnliches. Der Flächenbrand ist nur möglich, weil große Teile der politischen Mitte rassistisch sind, weil Teile der Medien immer wieder rassistische Diskurse verstärken, weil weite Teile der Gesellschaft in allen Schichten rassistisch sind, weil die etablierten Parteien rassistische Politik machen und weil der nie vollständig entnazifizierte Staat in Ost und West rassistisch ist, rassistische Politik macht, rassistisch mit Menschen umgeht, rassistische Stereotypen immer wieder reproduziert mit Racial Profiling, mit Polizeipressemitteilungen, in denen nur bei manchen Verbrechen rassistische Herkunftsangaben wie "Nordafrikaner" mitgeliefert werden, aber nie, wenn es sich um deutsche, englische oder französische Verdächtige handelt. Der Staat reproduziert rassistische Bilder und schürt Ängste durch die Inszenierung der sogenannten "Flüchtlingskrise" mithilfe der teuren und unmenschlichen Unterbringung von Geflüchteten in großen und menschenunwürdigen Lagern.

Mal ganz abgesehen von einer aggressiven Außenpolitik im Kosovo, in Afghanistan, in Libyen und in Syrien, die von der rassistisch fundierten Grundannahme ausgeht, dass es o.k. ist, "unzivilisierte" Länder im eigenen Sinne umzugestalten – auch mit Waffengewalt.

Schließlich und endlich ist die gegenwärtige politische Polarisierung in absolut rassistische und weniger rassistische, neoliberale Parteien aber auch eine Folge einer verfehlten neoliberalen Wirtschafts- und Sozialpolitik. Das Kapital wird seit 35 Jahren zunehmend konzentriert, die Reallöhne sinken, und die EU steckt in einer tiefen Krise. Die soziale Ungleichheit nimmt zu, die abstiegsgefährdete Mittelschicht ist immer leichter rassistisch zu mobilisieren. Es ist ein im Kapitalismus oft zu beobachtender Effekt, dass soziale Ungerechtigkeit ethnisiert und rassifiziert wird. Auf diese Weise ist es "die Natur" der rassistisch geänderten, die für "die Probleme" sorgt, und die politische Debatte über eine gerechtere Gesellschaft, wie sie in Griechenland und Spanien in einem großen Umfang angestoßen wurde, wird abgewürgt.

Die Biedermänner aus den etablierten Parteien haben frühzeitig dabei geholfen, den Brandbeschleuniger anzumischen, die Streichhölzer geliefert und die Brandstifter nachgerade eingeladen, das Haus anzuzünden. Die etablierte Politik und die politische Mitte haben sehr viel mehr zu dem gegenwärtigen rassistischen Flächenbrand beigetragen als Biedermann mit den Brandstiftern in Max Frischs Theaterstück.

Deshalb bitten wir euch um die Zusendung von Artikeln, die sich mit den Ursachen der gegenwärtigen rassistischen Konjunktur auseinandersetzen. Dabei könnten wir uns die folgenden Fragestellungen vorstellen:

- Haben die neoliberalen Reformen der letzten 30 Jahre (z. B. Privatisierung des Wohnungsmarktes, Agenda 2010) den gegenwärtigen aggressiven Rassismus begünstigt?

- Vom Wutbürger zum Angstbürger (Pegida, AfD). Woher kommt die Neid- und Angstdebatte?

- Stellen zunehmende soziale Ungleichheit, Abstiegsängste, das Ausbleiben des Sozialstaatsversprechens und der Versprechen der Wiedervereinigung den Brennstoff der augenblicklichen rassistischen Bewegung dar?

- Inwiefern trägt die Einheitssoße neoliberaler Parteien dazu bei, dass Wählerinnen und Wähler sich für rechtspopulistische Pseudoalternativen gewinnen lassen?

- Gießen die etablierten Parteien Öl ins Feuer, indem sie Maßnahmen wie die Verschärfung des Asylrechts beschließen und rassistische Forderungen nach "Obergrenzen", "mehr Geld für Deutsche" in die Diskussion einbringen?

- Verhalten sich die etablierten Politiker*innen nicht wie Biedermann, wenn sie die gewalttätigen Rassisten als "besorgte Bürgerinnen und Bürger" verniedlichen?

- Hat sich der Rassismus in der Mitte der Gesellschaft in den letzten Jahren verändert? Wenn ja, wie und warum? (Eventuell anhand von Umfragen).

- Welchen Beitrag leisten die Medien zur rassistischen Stimmung? Zum Beispiel durch die Kampagne nach dem Jahreswechsel mit Bezug auf die Ereignisse in Köln, "schwarzer Mann greift weiße Frau an", und die ungeprüften Falschmeldungen gleichen Inhalts.

- Welche Rolle spielen Staat und Polizei? Biedermann oder Brandstifter? Immer wieder gibt es Fälle, in denen rechtsradikale Elemente in der Polizei und in der Feuerwehr identifiziert werden. Was bedeutet es, wenn der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei öffentlich über die genetische Disposition von Nordafrikanern zur Vergewaltigung reden kann, ohne abgesetzt zu werden? Wie kommt es zu der extrem niedrigen Aufklärungsquote bei Anschlägen und Brandstiftungen gegen Geflüchtetenunterkünfte?

- Warum wendet sich die Ordnungsmacht eher gegen Geflüchtete als gegen den Mob der Brandstifter, wie z. B. in Clausnitz? Statt die grölende Menge aufzulösen zerrte die Polizei die Geflüchteten mit Gewalt aus dem Bus heraus und setzte sie der Gefahr durch den rassistischen Mob aus.

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Wir bitten um die Zusendung von Artikeln und Artikelvorschlägen zu dem von uns angerissenen Thema und unseren im obigen Text aufgeworfenen Fragen.

** Artikel für den Schwerpunkt der ZAG sollten nicht mehr als 12.000 Zeichen (inkl. Leerzeichen) umfassen.
** Hinweise zur Textgestaltung senden wir auf Wunsch gerne zu.
** Geschlechtergerechte Sprache ist erwünscht.
** Der Redaktionsschluss ist der 14. August 2016. Wir freuen uns aber auch über früher eingereichte Beiträge.
** Infos, Nachfragen, Artikelvorschläge sowie Lob und Kritik an redaktion@zag-berlin.de.
** Mehr Infos über die ZAG unter http://www.zag-berlin.de.
** Wir freuen uns auch über Texte für alle anderen Rubriken des Heftes, die dann jedoch nur max. 8.000 Zeichen haben sollten.

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