Todesliste wird immer länger
Dokumentation der Folgen deutscher Flüchtlingspolitik vorgelegt

Von Marina Mai

Seitdem Deutschland 1993 seine Grenzen gegen Flüchtlinge abzuschotten begann, starben 333 Menschen beim Versuch, ins Land zu kommen, sie kamen im Abschiebegewahrsam und auf der Flucht vor Beamten um oder sie verloren ihr Leben nach der Abschiebung im Herkunftsland.


Jahr für Jahr veröffentlicht die Antirassistische Initiative Berlin ihre Dokumentation »Die bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen«. Im letzten Jahr kamen mindestens vier Todesfälle hinzu, die durch Behörden direkt oder mittelbar verursacht sind. Eine Person ist zudem seit ihrer Abschiebung verschollen. Offizielle Zahlen des Bundesinnenministeriums stehen noch aus. 
Zwei neue Opfer sind die Kongolesin Tschianana Nguya und ihr namenlos gebliebenes Neugeborenes. Die Frau hatte zehn Jahre lang mit ihrem im Kongo politisch verfolgten Mann und drei Kindern in Niedersachsen gelebt. Sie war integriert, ihr Mann verdiente den Lebensunterhalt der Familie. Doch der Asylantrag wurde abgelehnt. Eine Abschiebung der Familie wurde 2004 wegen Atemstillstandes des Ehemannes auf dem Amsterdamer Flughafen gestoppt. 
Aus Angst tauchte die Familie in Deutschland unter. Tschianana Nguya wurde schwanger und fühlte sich so schlecht, dass sie das Risiko einging, beim Sozialamt einen Krankenschein zu beantragen. Sie wurde gemeinsam mit zwei ihrer Kinder festgenommen und in den Kongo abgeschoben. Dort wurden die Schwangere und ihre Kinder inhaftiert, zeitweise ohne Wasser und Nahrung gelassen. Auf Vermittlung von Mitgefangenen durften die in Deutschland geborenen Kinder im Alter von zwei und zehn Jahren von Verwandten aus der Haft abgeholt werden. Ihr weiterer Verbleib ist unbekannt, ebenso der Aufenthalt des Mannes und des dritten Kindes, die in Deutschland untergetaucht waren. 
Das schließlich im Gefängnis geborene Kind starb nach Recherchen der Antirassistischen Initiative eine Stunde nach der Geburt, die 34 Jahre alte Mutter acht Stunden später. Tschianana Nguya und ihr Neugeborenes sind zwei der 23 von der Antirassistischen Initiative recherchierten Flüchtlinge, die nach der Abschiebung durch staatliche Willkür im Herkunftsland zu Tode kamen. Die Dunkelziffer ist hoch, weil Recherchen nur durch Zufall zustande kommen. 
Nicht so beim Tod in Deutschland. Hier kann sich die Antirassistische Initiative auf Presseveröffentlichungen und Antworten der Bundesregierung auf Fragen von Abgeordneten stützen. 
162 Flüchtlinge starben seit 1993 beim Versuch, über die Grenze zu kommen. 131 Flüchtlinge töteten sich selbst angesichts ihrer drohenden Abschiebung oder sie starben beim Versuch, vor der Abschiebung zu fliehen. Fünf Flüchtlinge kamen während der Abschiebung ums Leben, zwölf bei anderen Polizeimaßnahmen. 
Fazit der Antirassistischen Initiative: Durch die Abschottungspolitik kamen mehr Flüchtlinge um als durch rechtsradikale Übergriffe. Die Initiative fordert eine Umkehr in der Flüchtlingspolitik. Statt, wie es Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) fordert, »die Ausreisepflicht bei nicht bleibeberechtigten Personen noch effektiver durchzusetzen«, sei Humanität gegenüber Menschen angebracht, die zum Teil seit Jahren hier leben, Familien gegründet haben und integriert, aber in ständiger Angst vor Abschiebung leben. 
Die Zahl der nach Deutschland einreisenden Asylbewerber nimmt kontinuierlich ab und lag im Vorjahr bei 28 900. Das ist der niedrigste Wert seit 1983. Nur noch 0,9 Prozent der Asylantragsteller werden anerkannt. Oft scheitert die Anerkennung allein daran, dass die Menschen über einen sicheren Drittstaat eingereist sind.

Neues Deutschland 11. März 2006