27.02.2007 / Inland / Seite 4

Tödliche Flüchtlingspolitik

Aktualisierte Dokumentation der Antirassistischen Initiative Berlin zeigt zunehmende Brutalisierung gegen Schutzsuchende

Ulla Jelpke
Abschottung und Ausgrenzung– das sind seit langem die Kennzeichen der deutschen Flüchtlingspolitik. Diese unselige Linie ihrer Vorgänger wird von der jetzigen großen Koalition unverändert fortgesetzt. Die Auswirkungen sind dramatisch; viele Flüchtlinge verlieren sogar ihr Leben. Dies wird seit 1993 durch die Dokumentation »Bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen« nachgewiesen. Die Auflistung solcher Vorfälle wird von der Antirassistischen Initiative e.V. Berlin herausgegeben und ist soeben aktuell in 14. Auflage neu erschienen.

Die Zahl der Flüchtlinge, die in der BRD Asyl beantragten, war demnach 2006 mit 21000 die niedrigste seit 1983. Zugleich wurden bei 30756 Entscheidungen des Bundesamtes nur 251 Personen als Asylberechtigte anerkannt (0,8 Prozent). Weitere 1097 Menschen erhielten Abschiebeschutz. Etwa 300000 Menschen leben in ständiger Angst vor Abschiebung. Viele von ihnen sehen sich daher gezwungen, in die Illegalität zu gehen.

Die Dokumentation beschreibt in fast 5000 Einzelfällen die Auswirkungen dieses staatlichen und gesellschaftlichen Rassismus. Die Zahlen sind auch 2006 konstant geblieben, wobei von einer hohen Dunkelziffer auszugehen ist. Seit 1993 starben 170 Flüchtlinge auf dem Weg in die BRD oder an deren Grenzen; 470 erlitten beim Grenzübertritt Verletzungen. 138 Flüchtlinge töteten sich angesichts ihrer drohenden Abschiebung oder starben bei dem Versuch, vor der Abschiebung zu fliehen; fünf starben während der Abschiebung. 67 kamen bei Bränden oder Anschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte ums Leben, 13 wurden durch rassistische Überfälle auf der Straße umgebracht. Nach der Abschiebung kamen 25 in ihrem Herkunftsland zu Tode, mindestens 411 wurden dort von Polizei bzw. Militär gefoltert oder kamen aufgrund schwerer Erkrankungen in Not. 67 Flüchtlinge verschwanden nach der Abschiebung spurlos.

Einige Beispiele aus dem Jahr 2006: Nachdem im Abschiebegefängnis Berlin-Köpenick am 13. Februar einem 63 Jahre alten Mazedonier die Aufenthaltskosten im Gefängnis (62 Euro pro Tag) präsentiert worden waren, versuchte sich der unter schweren Depressionen leidende Gefangene zu erhängen. Er wurde rechtzeitig gerettet. Am 24. Februar kletterte der 32jährige Zarko Bardul, um seiner Abschiebung zu entgehen, in Panik aus dem Fenster seiner im dritten Stock gelegenen Wohnung in Berlin-Wedding. Als die Fensterbank wegbrach, stürzte der aus dem Kosovo stammende Roma 15 Meter in die Tiefe. Er erlitt schwere Knochenbrüche an beiden Beinen und am rechten Arm.

Der seit 1999 in Frankfurt/Oder lebende kenianische Asylbewerber Joseph M. hätte nach beabsichtigter Heirat einer deutschen Staatsangehörigen längst einen sicheren Aufenthaltsstatus gehabt, wenn nicht immer wieder bürokratische Hürden aufgebaut worden wären. Als ihm seine sofortige Abschiebung eröffnet wurde, sprang er am 23. März durch ein geschlossenes Fenster aus einer Toilette in der Ausländerbehörde. Durch den Aufprall auf dem betonierten Boden zog er sich so schwere Verletzungen zu, daß er seither querschnittsgelähmt ist.

Der kurdische Flüchtling und abgelehnte Asylbewerber M. Ö. wurde zusammen mit seiner schwangeren Frau und zehn Kindern am 4. Mai in die Türkei abgeschoben. Nach einem Verhör durch die Flughafenpolizei in Istanbul wollte die Familie mit dem Bus in ihr Heimatdorf fahren. Mit den Worten »wir sind mit dir noch nicht fertig« zerrten zwei Männer M. Ö. aus dem Bus und verschleppten ihn. Seither gibt es keinerlei Lebenszeichen von ihm.

Am 8. Mai erlag eine 57 Jahre alte Chinesin ihren Verletzungen. Sie hatte sich einen Tag zuvor in der Abschiebehaftanstalt Neuss zu erhängen versucht und war von einem Notarzt reanimiert worden. Am 13. August rammte in der Abschiebezelle des Flughafens München der 36jährige Chinese Xiang Zhong Chen mit voller Wucht seinen Kopf gegen die Wand, um sich umzubringen. Er zog sich dadurch schwere Kopfverletzungen zu. Der Asylbewerber war vor zwölf Jahren in die BRD gekommen, seine Lebensgefährtin war im sechsten Monat schwanger. Sie erklärte, Chen sei weiter bereit, sich lieber umzubringen, als nach China zurückzugehen.

Am 19. September sollte die togolesische Familie Kpakou aus Marburg nach 13jährigem Deutschland-Aufenthalt abgeschoben werden. Bei dieser Maßnahme wurde die Familie von der Behörde gewaltsam getrennt. Während ein Arzt die Abschiebung des unter akutem Bluthochdruck leidenden Vaters aus gesundheitlichen Gründen stoppte, wurden sechs Kinder sofort von Hamburg nach Westafrika ausgeflogen. Der Widerstand, den Frau Kpakou und ihre erwachsene Tochter am Flughafen Frankfurt/Main den Bundespolizisten entgegensetzten, führte dazu, daß deren Abschiebung vorübergehend ausgesetzt wurde. Am 2. Oktober um 5.30 Uhr wurden die beiden Frauen mit dem sechsjährigen Sohn von Frau Kpakou und der zweijährigen Enkelin mit einer offenbar ausschließlich für die vier Personen gecharterten Maschine nach Lomé gebracht. Herr Kpakou hatte in seiner Verzweiflung am 26. September einen Selbsttötungsversuch unternommen. Da er wegen der dabei erlittenen Verletzungen nicht reisefähig ist, blieb er als einziger der Familie in der BRD.

info: Die Dokumentation umfaßt HEFT 1 (1993 – 1999) und kostet sechs Euro für 174 Seiten sowie HEFT 2 (2000 – 2006) für 10 Euro (230 Seiten) plus je 1,60 Euro Porto und Verpackung. Im Internet ist noch die 13. Auflage zu finden unter: ari-berlin.org/doku/titel.htm